Im ersten Band des „Maktubat“, im Brief 76 heißt es:

„In Vers 7 der Sure ‚al-Haschr‘, ‚Die Versammlung‘, heißt es sinngemäß:

Und was euch der Gesandte an Geboten verkündet, das nehmt an und gehorcht ihm, und was er euch untersagt, dessen enthaltet euch.”

Um vor Unheil in der diesseitigen Welt und vor dem Leid des Jenseits sicher zu sein, bedarf es zweier Sachen: des Festhaltens an den Geboten und des Fernhaltens von den Verboten. Die Befolgung dieser beiden Sachen bedeutet die Befolgung des Islam. Die höhere, die notwendigere dieser beiden, ist die zweite, und dies wird ‚Wara‘ (Sorgfältigkeit) und ‚Taqwa‘ (Frömmigkeit) genannt.

Einmal wurde in der Gegenwart des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, erwähnt, dass jemand sich sehr in den Anbetungen verausgabte, und auch, dass jemand anderer viel Sorgfalt walten ließ, um sich von verbotenen Sachen fernzuhalten, und er sagte: 

“Es gibt nichts, das wie die Sorgfalt, ‚Wara‘ ist.”

Er meinte damit, dass es höherwertig ist, dass man die Verbote meidet. In einer ehrwürdige Hadîth wird überliefert, dass er sagte:

‚Die Wara ist der Pfeiler eurer Religion.‘

 Es ist aufgrund der Wara, dass der Mensch den Engeln überlegen sein kann und dass er sich erhöhen kann. Die Engel gehorchen auch Befehlen, doch sie erhöhen sich nicht. Also ist es wichtiger als alles andere, dass man an der Wara und der Frömmigkeit festhält. Die kostbarste aller Sachen im Islam ist die Frömmigkeit. Die Frömmigkeit bildet das Fundament der Religion. Wara und Frömmigkeit bedeuten, dass man sich vor den verbotenen Sachen hütet. Um sich vor den verbotenen Sachen hüten zu können, muss man sich vor einem Übermaß an gestatteten Sachen, den ‚Mubah / Mubahat‘ hüten. Das ‚Gestattete‘, Mubah, sollte nur in dem Maß genutzt werden, in dem es notwendig ist. Wenn man von den Mubahat, also den Sachen, die im Islam gestattet sind, im Übermaß Gebrauch macht, kann es dazu führen, dass man auch Sachen tut, die zweifelhaft sind. Das Zweifelhafte wiederum ist dem Verbotenen nahe. Das Ego, die Nafs, des Menschen ist selbstsüchtig wie ein Tier. Wer an einem Abgrund wandelt, kann eines Tages in ihn fallen. Um die Wara und die Frömmigkeit präzise zu erfüllen, muss man die gestatteten Sachen nur in dem Maß nutzen, in dem sie notwendig sind, und darf dieses Maß nicht überschreiten. Dabei sollte man am besten auch die Absicht hegen, dieses Nutzen zur Erfüllung der Pflichten als Diener zu tun. Die Mubahat zu meiden ist nicht immer möglich und in unserer Zeit besonders schwierig. Also sollte man versuchen, das Verbotene zu meiden und das Gestattete so gut wie möglich zu beschränken. Wenn man das Gestattete über das Maß hinaus nutzt, sollte man dafür Reue empfinden und Tauba machen. Man sollte sich bewusst sein, dass übermäßiges Nutzen des Gestatteten ein Tor zum Verbotenen werden kann. Man sollte bei Allah, dem Erhabenen, Zuflucht suchen und Ihn um Schutz anflehen. Vielleicht werden dann dieses Bereuen und Zufluchtsuchen die Stelle der Meidung übermäßigen Gebrauchs des Gestatteten einnehmen, so dass man letztlich doch vor dem Übel in solchem Handeln bewahrt bleibt. Dschafar ibn Sinan sagte:

‚Die Erschlagenheit der Übertreter ist besser als der Stolz derer, die die Anbetungen verrichten.‘

Die Vermeidung des Verbotenen geschieht auf zwei Arten: Die eine ist die Vermeidung von Verboten, die allein die Rechte Allahs, des Erhabenen, betreffen, das Meiden der Sünden, die Er verboten hat. Die zweite Art betrifft das Vermeiden von Sünden, die die Rechte der Geschöpfe verletzen. Die zweite Art ist wichtiger. Allah, der Erhabene, ist nicht bedürftig und ist sehr barmherzig. Die Menschen sind jedoch sowohl bedürftig als auch geizig. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, sagte:

‚Wer die Rechte von Menschen verletzt hat, wer den Besitz oder die Ehre von Menschen angetastet hat, sollte vor seinem Tod mit ihnen ins Reine kommen. Denn am Tag des Gerichts werden Gold und Güter keinen Wert haben. An diesem Tag wird, bis die Schuld beglichen ist, vom Lohn der guten Taten einer Person übertragen, und wenn er keine guten Taten hat, wird ihm von der Sünde der anderen Person übertragen.‘

[Ibni Abidin, möge Allah mit ihm barmherzig sein [1], sagt in seiner Erläuterung des Buches ‚Durru‘l-Mukhtar‘, ‚Ausgesuchte Perlen‘, im Kapitel über die Absicht zum Gebet, auf Seite 295: ‚Wenn der Inhaber eines verletzten Rechts nicht vergibt, werden am Tag des Gerichts für jedes ‚Dank‘ an Recht 700 in der Gemeinschaft verrichtete und angenommene Gebete übertragen.‘ Ein ‚Dank‘ ist (eine Gewichtseinheit und meint) etwa ein Sechstel eines Dirham, also etwa ein halbes Gramm Silber.]

Eines Tages fragte der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, seine Gefährten: 

‚Wisst ihr, wer der Muflis, der Zahlungsunfähige ist?‘

Sie antworteten: ‚Nach unserem Verständnis ist das jemand, dem weder Geld noch Besitz geblieben sind.‘ Und er sagte:

‚Der Zahlungsunfähige in meiner Gemeinde ist der, in dessen Buch am Tag des Gerichts viele Gebete, viel Fasten und Almosensteuer aufgezeichnet ist, der aber Menschen beschimpft hat, sie verleumdet hat, ihren Besitz unrechtmäßig an sich nahm, ihr Blut vergoss oder sie schlug, und dessen Lohn für seine guten Taten dann auf diese Menschen übertragen wird. Wenn sich der Lohn seiner guten Taten erschöpft, bevor seine Schuld beglichen ist, werden ihm die Strafen für die Sünden jener Menschen übertragen. Sodann wird er in die Hölle geworfen.‘

[1] Muhammed ibni Âbidîn starb 1252 n. H. [1836 n. Chr.] in Damaskus.